Jena zieht erste stadtgesellschaftliche Bilanz

Mit dem »Klang der Stolpersteine« ist am 9. November 2021 das umfangreiche Gedenk- und Aufarbeitungsprogramm zum NSU-Komplex unter der programmatischen Überschrift »Kein Schlussstrich!« zu Ende gegangen. In mehr als 70 Veranstaltungen in Jena über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten mit rund 6.000 Teilnehmenden und gipfelnd im bundesweiten Theaterprogramm zum NSU Komplex ist es nun Zeit für eine erste stadtgesellschaftliche Bilanz.

Rückblick – einige Highlights aus dem Programm

Die meisten Besuchenden erreichten die Site-Specific-Theateraktion »438 Tage. Theatrale Spurensuche zum NSU-Prozess in 17 Etappen« im Rahmen des Kunstfests Weimar und die Ausstellung »Offener Prozess« in der Kunstsammlung Jena. Das Kunstwerk von Sebastian Jung, welches am Tag der Deutschen Einheit in Winzerla enthüllt wurde, gab Anlass zum Nachdenken.

Bei den Podiumsdiskussionen »2×3: Sie kamen von hier« sprachen am 20. Oktober 2021 zum einen die (Alt-)Oberbürgermeister der Stadt Jena über »die Stadt und den NSU«, während Rea Mauersberger, Dr. Gisela Horn und Michael Ebenau über “drei Jahrzehnte antifaschistisches, antirassistisches Engagement” in der Stadt berichteten.

Bei der zentralen Veranstaltung des KomRex am 7. Oktober 2021 und »20 Jahre THÜRINGEN-MONITOR: Demokratie- und Rechtsextremismusforschung im Freistaat« gab es großes Interesse vor Ort und digital.

Mit der »MANIFEST(O)«-Aufführung schließlich machte die Jenaer Philharmonie die Stimmen der Opferangehörigen rechter Gewalt hörbar. Am 7. November 2021 wurde dieses Oratorium zum letzten Mal im ausverkauften Volkshaus aufgeführt. 

Neben Kunst & Kultur:

  • wurden Opfer- und Betroffenenperspektiven einbezogen (siehe insbesondere die Veranstaltungen der Stadtbücherei: 1. Oktober 2021, »Behind the Curtain«, (Post-)migrantische Perspektiven auf Kultur und Leben in der DDR, Konzert von Thet à Thet // 7. Oktober 2021, Die Farbe meiner Haut. Ostdeutsche Umbruchserfahrungen aus einer nicht-weißen Perspektive: Lesung & Gespräch: ManuEla Ritz & Dr. Carsta Langner // 16. Oktober 2021, Diskussion zum Film: »Stadtgespräch: In Jena Zuhause«)

Neben Wissenschaft:

  • wurde die breite Expertise von Journalist:innen (z.B. die Ausstellung »Der Weg in den Untergrund« von Frank Döbert), hauptamtlichen Akteur:innen (z.B. die Ausstellung “END.TÄUSCHUNG  Rechtsextremismus.Irritation.Ausstieg” und die Veranstaltung »”Baseballschlägerjahre« am 25. Oktober 2021 von Drudel 11 e.V.)  sowie Stimmen aus zivilgesellschaftlichen Initiativen einbezogen (z.B. die Veranstaltung „Rechte Gewalt in Jena? Gibt‘s doch nicht mehr!“ am 9. Oktober 2021 und „Asyl in Jena“ am 22. Oktober 2021)

Arbeitskreis der zivilgesellschaftlichen Akteure:

  • Stellungnahme im Vorfeld, Beobachter:innen und Auswertung der Veranstaltungsreihe

Ausblick – was bleibt und was wird/ kann entstehen?

Was bleibt?

  • Der Runde Tisch für Demokratie wird weiterhin Sprachrohr verschiedener Akteur:innen sein

Was entsteht?

  • Der begonnene Prozess mit dem Arbeitskreis zivilgesellschaftlicher Akteur:innen wird fortgesetzt und intensiviert
  • Auswertung von “Kein Schlussstrich!” durch den Arbeitskreis der zivilgesellschaftlichen Akteure mit der Perspektive, Empfehlungen an den Runden Tisch, die Stadt und den Stadtrat zu adressieren zwecks Vertiefung und neuer Impulse für antirassistische Arbeit und mehr Vielfalt in Jena.
  • Ergebnisse des Weimarer Reenactments »438 Tage«,
  • der Film »KEIN SCHLUSSSTRICH – Das Gegennetzwerk«,
  • die Umsetzung von MANIFEST(O) als digitales Memorial durch die rooom AG,
  • das Buch »Rassismus.Macht.Vergessen« (transcript Verlag),
  • zwei Stadtrundgänge (vom Antje Schupp und vom ThürAZ),
  • die Ausstellung »Der Weg in den ‚Untergrund’« von Frank Döbert,
  • Film »In Jena zu Hause«,
  • Video-Dokumentation »Es begann hier« der Geschichtswerkstatt,
  • Gedenktage,
  • Umbenennung der Straßenbahnhaltestelle Damaschkeweg in »Enver-Şimşek-Platz«,
  • nächster Botho-Graef-Kunstpreis,
  • auf dem Weg zu einem NS-Lernort (Begegnungsstätte, Neukonzeption der Villa Rosenthal),
  • 10 Punkte Plan gegen Rassismus der Stadt Jena,
  • Forderung eines NSU Dokumentationszentrums.
Klang der Stolpersteine, Fotomomente 2021, Foto: Jenafotografx
Klang der Stolpersteine, Fotomomente 2021, Foto: Jenafotografx

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Statements der Initiatoren von »NSU – Kein Schlussstrich! Jena«

Dr. Thomas Nitzsche, Oberbürgermeister der Stadt Jena

»Das Jahresprojektes „Kein Schlussstrich! Jena und der NSU-Komplex“ hat erstmals bundesweit und hier bei uns in Jena eine künstlerische, ehrliche und vielschichtige Auseinandersetzung mit den schrecklichen Taten des NSU gebracht. Wichtige Denkanstöße wurden gegeben. Viele Fragen sind noch offen und es muss unser Ziel sein, die Auseinandersetzungen auch in Zukunft wach zu halten, damit sich das, was hier passierte, nicht wiederholt.

Als Stadt Jena werden wir hierzu unsere Dreifachstrategie verstärken: Neben Ermittlungserfolgen der Polizei brauchen wird das Engagement der Zivilgesellschaft. Und wir werden als Stadt sichtbare Zeichen setzen, dass wir ein Klima der Angst, der Einschüchterung und der Gewalt in unserer Stadt nicht dulden. Dabei meine ich öffentlich wahrnehmbare Zeichen genauso wie nicht-öffentliche Begegnungen und Gespräche mit den Betroffenen, mit den Opfern, damit sie wissen, dass sie nicht allein gelassen werden und an wen sie sich bei Bedarf wenden können.

Der “10-Punkte Plan gegen Rassismus” der Stadt Jena wird dabei eine zentrale Rolle spielen. Wir alle müssen gegen rechtsextreme und menschenfeindliche Taten eintreten! Mir ist wichtig, dass diese Auseinandersetzung in die Breite der Stadtgesellschaft getragen wird. Das Engagement der Bürgerinitiativen ist hierbei ganz wesentlich, denn nicht zuletzt sie haben entscheidend dazu beigetragen, dass der Prozess unserer stadtinternen Auseinandersetzung soweit vorangebracht wurde«

Jonas Zipf, Werkleiter von JenaKultur

»Es ist die insgesamt überwältigend große Resonanz zu unserem Projekt, die zeigt, wie wichtig es ist, den Titel des Projektes ernst, wortwörtlich zu nehmen: KEIN SCHLUSSSTRICH! Gerade in Jena hat die Verständigung zwischen zivilgesellschaftlichen und stadtpolitischen Akteuren gegen Rassismus und Diskriminierung erst richtig begonnen. Nach wie vor gibt es auf allen Seiten Vorbehalte und Abwehrreflexe.

Deshalb kann das Fazit nur lauten: KEIN SCHLUSSSTRICH! unter die Erforschung und Aufarbeitung des NSU-Komplexes; KEIN SCHLUSSSTRICH! unter die strukturellen Rassismen und Blindheiten unserer Gesellschaft und ihrer Institutionen; KEIN SCHLUSSSTRICH! aber vor allem unter den Dialog und die Kooperation all derer, die für unsere Demokratie und die Würde eines jeden Menschen eintreten.«

Dr. Gösta Gantner, Projektkoordinator KEIN SCHLUSSSTRICH!

»Hinter uns liegen bewegende und gelegentlich auch mühsame Monate der Aufarbeitung, der Auseinandersetzung und des Gedenkens. Wir werden nun gemeinsam mit unseren Partnern und Vertreter:innen verschiedener zivilgesellschaftlicher Initiativen versuchen, zentrale Erkenntnisse, Ergebnisse und Schwachstellen zu dokumentieren und sie für die weitere stadtgesellschaftliche Beschäftigung mit gruppenspezifischer Menschenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus fruchtbar werden zu lassen.

KEIN SCHLUSSSTRICH bedeutet eben auch, möglichst kraftvolle Impulse für die Arbeit in der kommunalen Verwaltung, in politischen Initiativen und in wissenschaftlichen oder künstlerischen Zusammenhängen mitzunehmen: Für eine mutige Mehrheit, letztlich für eine vielfältige Gesellschaft, in der wir alle ohne Angst und Ausgrenzung gleichberechtigt, respektvoll und einander zugeneigt leben können.«

Projektseite: http://www.kein-schlussstrich-jena.de

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Fotografik: JenaFotografx.de